Du gehst mir ab


Menschen können viel entbehren und gleichzeitig große Leistungen vollbringen. Aber Covid-19 scheint uns an den Rand unserer Kapazitäten zu bringen. Das ist umso erstaunlicher, als dass die Einschränkungen, denen wir unterliegen, oft gar nicht hoch sind.

Sich darüber zu verständigen, in welchem Sinn wir unsere individuelle Freiheit schützen, gerade dadurch, dass wir das Gemeinwohl fördern und im Einzelfall unsere individuellen Interessen für dieses zurückstellen, ist in Krisenzeiten wichtig. Wer sich in der Pandemie unverantwortlich verhält, riskiert Leib und Leben. Man hat also einen individuellen Anreiz, sich und seine Nächsten zu schützen.

Jener Teil der Bevölkerung, der einen Lockdown für einen Zustand hält, in dem man sich vorsichtig und rücksichtsvoll verhält und private Treffen vermeidet, kommt sich, im Lichte so mancher beobachtbaren Verhaltensweisen, blöd vor.

„Du gehst mir ab“ ist eigentlich recht intim. Aber es ist doch so. Mir gehen die ab, die wenig reden und meistens nur in ihren Schirm gucken und auf die Tastatur hämmern. Mir gehen die ab, die dauernd etwas wollen. Mir gehen aber auch die ab, die nie etwas wollen, die aber immer da waren im Büro, an denen ich mit einer Geste, einem Nicken vorbeigetrabt bin.

Wir gehen einander ab. Wir fehlen einander, korrekter ausgedrückt. Viele sind überaktiv im Halten von Kontakten und schreiben permanent Mails oder Chatnachrichten à la „Ich hoffe, du bist gesund …“. Was soll man denn da antworten? „Ja, negativ getestet, aber sonst weiß ich es nicht“ – oder wie? Es ist komplizierter geworden, auch mit den Arbeitsbeziehungen. Bei all dem Stress, den Unstimmigkeiten, Ungerechtigkeiten, all den Problemen und überhaupt dem ganzen Ärger.

Es ist schwierig, einsam, manchmal unerträglich so gezwungen vereinzelt. Mir gehen die Kolleginnen und die Kollegen ab.

Tatsächlich brauchen wir aber alle, egal in welcher Lage wir sind, Trost. Auch wer nicht ohne Familienbesuch hospitalisiert ist, auch wer nicht arbeitslos ist, auch wer nicht probieren muss, den Job mit Homeschooling der Kids irgendwie zu vereinen, auch wer nicht gerade ahnt, dass seine Firma pleitegehen wird, braucht Trost. Und Trost heißt ja immer, dass etwas da ist, an dem man sich festhalten kann, etwas, das erfreulich und bestärkend ist.

Jetzt ist die Zeit, auszusprechen, dass wir einander fehlen. Nicht als Kuschelkurs, sondern als ausgesprochener Satz dafür, dass wir zusammengehören. Wer damit beginnt und sich traut, hat gewonnen.

Die Pandemie hat soziale Verwerfungen in einer Art sichtbar gemacht, die keine Ignoranz mehr zulässt. Mittlerweile sind auch die ursprünglichen Hoffnungen, man werde relativ schnell zum Gewohnten, zum Zustand ex ante, zurückkehren, zerschlagen. Die Ängste sind mit dem absehbaren Änderungsbedarf gestiegen. Gleichzeitig waren viele Arbeitende auch in der privilegierten Situation, sich mit sich und ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Die Frage, wie das alles weitergehen soll, ist ebenso in der breiten Diskussion der brennenden Fragen angekommen.

Weder passt Homeoffice für alle gleich gut, noch lässt sich für dort alles gesetzlich regeln. Wer zu Hause Kinder hat und keine große Wohnung, hat Nachteile im Homeoffice. Wer frisch in einer Organisation ist und niemanden kennt, wem die Ganggespräche und die informellen Wege fehlen, hat im Homeoffice ein Problem. Wer sich grundsätzlich schwertut, Pausen zu machen und die Arbeit zu begrenzen, die Geräte abzudrehen, für den wird Homeoffice relativ schnell sehr ungesund werden – selbst wenn ein hybrides Modell mit ein paar Bürotagen nebst Heimarbeit, installiert wurde.

Der Anspruch ist da: der Anspruch, die Kontrolle zu behalten. Ein ordentlicher Haushalt, ein effizienter Umgang mit Geld, ein Überblick über wichtige Dinge. Das alles wird von uns erwartet – und das erwarten wir auch von uns selbst. So schwierig ist das ja nicht.

Es kommt viel zusammen. Unsere Energie ist begrenzt, wir können uns nur mit einer begrenzten Menge an Unannehmlichkeiten auseinandersetzen. Wir fühlen uns allein mit dieser Last, mit dem schlechten Gefühl im Hinterkopf. Alleinstehende können sich den Druck nicht einmal aufteilen.

Wer denn noch erzählt bekommt, dass ein Lockdown die perfekte Zeit zum Produktivwerden sei (Brot backen! Basteln!) oder das vielfältige Online-Kulturprogramm zu nutzen, entfernt sich immer mehr vom gefühlten Anspruch an sich selbst.

Es wird besser werden, irgendwann in diesem Jahr werden wir die Corona-Sorgen allesamt hinter uns lassen. Das heißt noch nicht, dass alle gesund bleiben werden. Es heißt auch nicht, dass wir alle Probleme loswürden. Aber es ist berechtigter Anlass für eine optimistische Haltung.

Also 2021, streng dich an! Du musst so einiges wettmachen. Wir erwarten ziemlich viel von dir.