Es gilt es heute als weitgehend anerkannt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Volkswirtschaft sich im internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten, auch in starkem Zusammenhang mit dem Bildungsstand der Bevölkerung steht. Daher wird dem Qualifikationsprofil der Erwerbstätigen immer größere Bedeutung zugesprochen. Um dieses „Humankapital“ bestmöglich nutzen zu können wird auch bereits das Bildungssystem in den Dienst der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft oder verbesserter Einkommenschancen jedes einzelnen gestellt. Dabei geht es primär um die Frage, wie die vorhandenen Bildungsstrukturen den ökonomischen Ertrag erhöhen (können).
Zunehmend wird offensichtlich, dass das Bildungssystem kaum imstande ist, den hohen Erwartungen (optimale Wettbewerbschancen für den international wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, Verdrängungswettbewerb am Arbeitsplatz, …) ausreichend nachzukommen. Zum einen verlautbart „die Wirtschaft“ ihren Unmut darüber, dass nicht genügend schnell und nicht in gewünschter Art und Weise auf ihre Bedürfnisse (Anzahl und Qualifikationsprofil der Absolventen) reagiert wird. Zum anderen wird bemängelt, dass kaum auf Spezialbedürfnisse (Stichwort: Hochbegabtenförderung) Rücksicht genommen wird. Beide Punkte hängen stark mit den zentralistischen Steuerungsmechanismen zusammen. Da die Entscheidungsfindungen im österreichischen Bildungssystem umständliche Prozesse sind, in welche auch noch etliche gesellschaftliche Gruppen ihre (konträren) Interessen einbringen, sind tiefgreifende Veränderungen äußerst schwer zu realisieren.
Die in den Debatten um das Bildungssystem selten bis nie beachteten Lehrerinnen und Lehrer stehen mit ihrer Arbeit im Spannungsfeld zwischen demokratisch-idealistischen Ansprüchen und der Realität. Unter den Lehrkräften macht sich zunehmend das Gefühl breit ein ohnmächtiges Anhängsel eines sehr undurchschaubaren Apparates zu sein, von welchem persönliches Engagement oder Leistungsbereitschaft nur selten wahrgenommen und schon gar nicht honoriert wird.
Aus all diesen Gründen ist die Frage nach dem Wert von Bildung so virulent wie wohl noch zu keiner Zeit zuvor in der menschlichen Kultur.
Die Frage nach dem Stellenwert von Bildung ist nicht neu. Adam Smith schrieb schon 1776: „Der Erwerb solcher (qualifizierten) Fähigkeiten macht infolge der Notwendigkeit, die betreffenden Menschen während der Zeit ihrer Ausbildung, ihres Studiums oder ihrer Lehrlingszeit zu unterhalten, stets Geldausgaben erforderlich, die sozusagen in einen Menschen gestecktes stehendes Kapital darstellen. Diese Fähigkeiten bilden nicht nur einen Teil des Vermögens des Betreffenden, sondern auch einen Teil des Vermögens der gesamten Volkswirtschaft, der er angehört. In derselben Weise läßt sich die gesteigerte Geschicklichkeit eine Arbeiters als eine Art Maschine oder Werkzeug betrachten, die die Arbeit erleichtert oder abkürzt, und die, wenn sie auch Ausgaben verursacht, diese doch mit Gewinn zurückzahlt„(1) Diese Idee von Bildung als ökonomisch zu kalkulierende Größe konnte sich in jener Zeit, als die handwerkliche Produktion durch maschinelle Fertigung abgelöst wurde, etablieren. Dadurch trat die brauchbar machende und verwertbare Qualifikation an die Stelle umfassender Bildung. Diese Entwicklung setzte sich fort und so ist es kaum verwunderlich, dass die „Erstellung“ von „brauchbaren Humankapital“ heute als die primäre Aufgabe eines Bildungssystems verstanden wird.
Die Verbindung der Begriffe Bildung und Ökonomie ist aber äußerst Problematisch. Denn „wenn im Begriff der Bildung noch ganz in humanistischer Tradition Menschenbildung, Fähigkeit zur Reflexion in Einsamkeit und Freiheit, als Konstitution des autonomen bürgerlichen Individuums […] erscheint, so (offenbart sich) im Begriff der Ökonomie dieser Bildung das Moment der Ausbildung, der Konditionierung des Individuums für die Berufspraxis innerhalb einer Gesellschaft mit differenzierter Arbeitsteilung und – dies vor allem – des Kalküls von Kosten und Nutzen, die eine spezifische Ausbildung verursacht.“(2) Die Idee von Bildung, als ein über den Erwerb von brauchbarmachenden Qualifikationen hinausgehender Begriff, wurde aber anscheinend aus dem allgemeinen Bewusstsein weitgehend verdrängt. „Das Bildungswesen gilt heute als gesellschaftliche Einrichtung, in der vorwiegend jüngere Menschen mit Qualifikationen ausgestattet, an die Erwartungen der bestehenden Gesellschaftsordnung angepaßt und für ihre Aufgaben gemäß der ökonomischen Bedarfslage vorbereitet werden. Es funktioniert als eine Institution der Auslese und Sozialisiation. Im bestehenden Bildungswesen finden sich kaum Ansätze, den einzelnen erfahren zu lassen, wie er oder sie die Auseinandersetzung mit der Sozial- und Sachwelt aufnehmen und durchführen soll. Es werden überwiegend Maßnahmen getroffen, die funktional unser Gesellschaftssystem reproduzieren. Das Verständnis von Bildung hat sich weitgehend instrumentalisiert. Sie wird nicht in reflexiver Absicht betrieben, sondern ist Mittel für soziales Ansehen und Fortkommen.“(3) Bildung kommt ausschließlich als wirtschaftlicher Faktor (Arbeitskräftequalifizierung) ins Blickfeld. Wirtschaftswachstum wird zur Schlüsselgröße gesellschaftlicher Entwicklung. Nur durch permanente Produktionssteigerung und mehr materiellem Wohlstand scheint menschliche Existenz geglückt. Bildung kann so nur als Zulieferinstanz für ein potentiell unbegrenztes Wachstum gesehen werden.
Bildung meint aber eigentlich nicht nur die Schaffung der Voraussetzungen für eine Eingliederung in gegebene gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, sondern hat die Aufgabe die Befähigung zu fördern, Zweck und Nutznießer dieser Strukturen zu erkennen und gegebenfalls gegen falsche oder problematische Entwicklungen auftreten zu können. In diesem Sinne kann auch die traditionelle Vorstellung der Arbeiterbewegung verstanden werden. Mit der Parole „Bildung ist Macht“ wurde kein individuelles Instrument für einen (besser bezahlten) Arbeitsplatz sondern eine gesellschaftliche Vision vom emanzipierten Menschen propagiert. Dieses Menschenbild versetzt jeden in die Lage an der permanenten Demokratisierung der Gesellschaft mitzuwirken. Eine derart gestaltete Gesellschaft wäre nicht durch die Notwendigkeit des Konkurrenzkampfes um lukrative Arbeitsplätze gekennzeichnet.(4)
Unser gesellschaftliches Leben wird fast ausschließlich von einer ökonomischen Rationalität bestimmt. Im Mittelpunkt steht der mess-, zähl- oder abwägbare Erfolg. Ethische oder ideologische Begrenzungen sind in unserer Kultur kaum breitenwirksam vertreten. Unter dem Motto „dem Tüchtigen gehört die Welt“ kann jeder am allgemeinen Konkurrenzkampf teilnehmen und sich den größeren Teil an materiellem Reichtum sichern.
Einige gesellschaftliche Bereiche konnten sich zwar der Dominanz des ökonomischen Denkens fernhalten, „aber zweihundert Jahre Kapitalismus beginnen jetzt in den entwickelten Ländern immer deutlicher zu zählen, und wir erleben […] eine rapide Durchdringung fast aller Lebensbereiche mit ‚kapitalistischem Geist‘. Selbst flüchtige Vergleiche heutiger Erscheinungen und Einstellungen mit jenen von gestern und vorgestern lassen diesen Trend deutlich erkennen. Finanzielles Denken und spekulative Hoffnungen – vom kleinen Lotto bis zu Finanztransaktionen, die täglich hunderte Milliarden Dollar in Bewegung halten – verdrängen immer mehr sachliche Überlegungen über qualitative Aspekte des Reichtums und der Investitionen; Politiker sind besorgt, wie sie ihre Politik ‚verkaufen‘ können; der Sport wird von Spiel und fairer Begegnung immer mehr zu Big Business, wo Sportler sich todfeindlich um Millionen bekämpfen, Schauspieler reißen sich um Werbespots für den größten Blödsinn, ohne zu erröten und, und, …“(5)
Ein tief verankertes ökonomisches Denken lässt uns alles nur mehr als Ware erkennen und dadurch zum Einsatz im Verdrängungswettkampf werden. Auch Bildung wird in diesem System zwangsläufig auf ihren Warencharakter reduziert. Die Herstellung und der Einsatz von Bildung wird entsprechend ökonomischer Kriterien beurteilt und damit auch kalkulierbar um nicht im alles bestimmenden Konkurrenzkampf zu unterliegen. Der Luxus einer nicht im Dienst wirtschaftlichen Wachstums stehenden Bildung ist kaum mehr möglich. Bildung muss sich ebenfalls wirtschaftlichen Prinzipien wie Wachsen oder Weichen unterordnen.
Die Idee von einer Bildung als Ware geht vom scheinbar logischen Gedanken aus, dass sich die Kriterien an denen die Wirtschaft bemessen wird, auf Bildung übertragen lassen. Unternehmensprofit wird in Zahlen und Fakten gemessen. An welchem Kriterium lassen sich Bildungsprozesse messen? Es gibt keine unbestreitbare pädagogische Wahrheit. Die unterschiedlichen pädagogischen Auffassungen stehen auch nicht wertfrei nebeneinander sondern sind durch verschiedene Interessen bestimmt.(6) Was als pädagogisch sinnvoll bezeichnet wird, hat mit der vorherrschenden Interessenslage zu tun. Ob Bildung nur für die Herstellung von Humankapital zuständig ist, oder auch Emanzipation Raum bekommt, ist eine politische Frage und wird je nach Interessenslage unterschiedlich beantwortet.
Wie bereits skizziert, ist das Verständnis von Bildung eher das einer Zulieferinstanz für ein wirtschaftliches Funktionieren. Daher werden Bildungseinrichtungen auch daran gemessen wie sehr sie in der Lage sind potentielle Abnehmer mit einem bestimmten Qualifikationsprofil auszustatten. Unter solchen Bedingungen bleibt Bildungseinrichtungen gar nichts anderes übrig als im Sinne von Humankapitalisierung zu fungieren. Unter dem vorherrschenden (ökonomischen) Denkmuster ist sehr leicht nachvollziehbar, dass auch Eltern keine andere Wahl haben als die eigenen Kinder gerade in jene Schule zu schicken in welcher der Erwerb von „vermarktbaren“ Fähigkeiten mehr Zeit eingeräumt wird, als der Erlernung und Einübung von kritischer Reflexion. Schließlich muss die Arbeitskraft unter Konkurrenzbedingungen am Markt angeboten werden.
Noch hält sich hartnäckig die Vision, dass die durch Bildung initiierte Sinnfrage jedem Menschen die Chance zur Überwindung von Egoismus und Konkurrenz eröffnet. Durch Bildung „begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber, versteht er, daß ihm die Ketten, die das Fleisch aufschneiden, vom Menschen angelegt sind“, aber auch, und das ist das Wesentliche, „daß es eine Aussicht gibt, sie zu zerreißen“(7)!
- Smith A.: Natur und Ursachen des Volkswohlstandes, Deutsch mit Kommentar von Friedrich Bülow, 2. Buch, Leipzig 1943, S.176/177, zitiert nach: Combe/Petzold: Bildungsökonomie – Eine Einführung, Köln 1977.
- Altvater E.: Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Altvater/Huisken (Hrsg.): Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen 1971, S.77.
- Lenz W.: Lehrbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1987, S.26/27.
- Vgl. Ribolits E.: Berufliche Qualifizierung in der Erwachsenenbildung – in wessen Interesse?, in: Die österreichische Volkshochschule, 41.Jg., Heft 150, Juni 1990, S.23-27.
- Rothschild K.W.: Bildung, Ausbildung, Humankapital – Bemerkungen zum Bildungsproblem im Spätkapitalismus, in: Blumberger/Weidenholzer (Hrsg.): Ist Wissen Macht? Macht Bildung frei? Linz 1988, S.170-178.
- Vgl. Kutalek N.: Was in der Suppe pädagogischer Fragen versinkt; in: Achs O. u.a.: Lernen für die Zukunft. Vorträge und Diskussionen anläßlich des 3.Internationalen Glöckel-Symposions ’89; Wien-München 1990, S.66-68.
- Heydorn H.J.: Bildungstheoretische Schriften, Frankfurt am Main 1979, S.262.